Allgemein Gedenktag

9. November: Mahnung und Auftrag

Tuch mit Davidstern neben hebräischen Toratexten
Quelle: hurk auf Pixabay

Kaum ein Datum ist so sehr verwoben mit der deutschen Geschichte, wie der 9. November. 1848 mit der Hinrichtung des demokratischen Revolutionärs Robert Blum, 1919 mit der Ausrufung der ersten Republik auf deutschem Boden, 1923 mit dem Hitler-Ludendorff-Putsch und 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer.

Dieser Tage erinnern wir aber besonders an den 9. November 1938 – dem Höhepunkt der blutigen Novemberpogrome gegen die jüdische Bevölkerung in Deutschland. In der Nacht auf den 10. November wurden im gesamten Reichsgebiet hunderte jüdisch-gläubige Menschen ermordet, viele weitere nahmen sich das Leben. Etwa 1400 Synagogen und andere jüdische Einrichtungen sowie tausende Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe wurden von den Nationalsozialisten und ihren Unterstützern verwüstet, in Brand gesetzt und zerstört. Auf die Zerstörung folgen die Deportation und massenhafte Ermordung der jüdischen Bevölkerung.

Wenngleich sich die nicht-jüdische Bevölkerung Deutschlands nicht im großen Stil selbst an den Pogromen beteiligte, so nahm sie die Gewaltexzesse von SS und SA gegen die jüdische Minderheit doch weitestgehend tatenlos hin. Protest oder Solidarisierungen mit der jüdischen Bevölkerung Deutschlands blieben seltene Ausnahmen. Diese Tatenlosigkeit war es, die die millionenfache Vertreibung, Verfolgung und Ermordung jüdischer Menschen in Deutschland und Europa erst ermöglichte.

Seit dem Untergang des Nationalsozialismus wird in Politik, Schulen und Zivilgesellschaft stets das Mantra vom „Nie wieder!“ propagiert. Nie wieder sollen in Deutschland Menschen systematisch entrechtet, verfolgt, bedroht und ermordet werden. Antisemitismus werde „nicht hingenommen“ und dürfe „keinen Platz“ in Deutschland mehr haben. Der Schutz des Existenzrecht Israels als Schutzpatron der Juden weltweit sei „deutsche Staatsräson“. Soweit die üblichen Reden anlässlich von Gedenktagen wie dem heutigen. Gerne wird in diesem Zusammenhang auch betont, wie erfreulich es ist, dass trotz der Schrecken der Shoah jüdisches Leben nach Deutschland zurückgekehrt ist.

Zur traurigen Wahrheit aber gehört auch, dass unsere jüdischen Mitbürger sich heute wieder Bedrohungen ausgesetzt sehen und jüdische Einrichtungen überall unter den besonderen Schutz des Staates gestellt werden müssen. Die jüdische Gemeinde sieht sich dabei von zweierlei Seiten bedroht. Auf der einen Seite sind es Rechtsextreme und andere Ewiggestrige, die den Holocaust leugnen oder relativieren und auch vor neuerlicher Gewalt gegen Juden nicht zurückschrecken. So verhinderte beispielsweise am Jom Kippur 2019 nur die massive Holztür der Synagoge von Halle einen Mordanschlag auf die dortige jüdische Gemeinde.

Zur Wahrheit aber gehört auch, dass jüdisches Leben heute nicht allein durch die extreme Rechte bedroht wird. Vor allem in Großstädten haben sich vornehmlich muslimisch-migrantisch geprägte Milieus herausgebildet, in denen Antisemitismus mehr oder weniger offen ausgelebt wird. In den betroffenen Stadtteilen können jüdische Mitbürger nicht mehr mit Kippa und Davidstern auf die Straße, ohne beleidigt, bespuckt und körperlich angegriffen zu werden. Lange wurde diese Form des Antisemitismus verschwiegen, relativiert oder als sozialisationsbedingte Eigenheit verharmlost. Das es auch hier massive Probleme gibt, wurde jedoch in den letzten Tagen besonders deutlich. In Essen und Berlin gingen zum Teil tausende Menschen auf die Straße, um vermeintlich für Frieden und gegen das Leid der Menschen in Gaza zu protestieren. Eine Verurteilung der barbarischen Terrorangriffe der Hamas vom 7. Oktober war hingegen nur vereinzelt und sehr verhalten zu vernehmen. Besonders auffällig war hier die hohe Zahl junger Muslime, aber auch linker „Israelkritiker“, die mit Slogans wie „From the river to the sea, Palestine will be free“ letztlich nichts als die Vernichtung des Staates Israel und die Vertreibung seiner jüdischen Bevölkerung propagierten. Entgegen aller Beteuerungen, hatte Antisemitismus zuletzt viel Platz auf deutschen Straßen.

Das alles schließt Kritik am konkreten Handeln des israelischen Staates nicht aus. Wenn aber das „nie wieder!“ mehr als eine politische Floskel für Gedenktage sein soll, müssen Staat und Gesellschaft künftig entschiedener handeln. Netzwerke und Organisationen, die jüdisches Leben in Deutschland bedrohen dürfen nicht nur formal verboten werden, sondern müssen mit der vollen Härte des Rechtstaates verfolgt werden. Dafür braucht es nicht zuallererst neue oder schärfere Gesetze, sondern eine robuste Durchsetzung bereits bestehender Rechtsnormen. So sind Vermögenswerte zu beschlagnahmen und Organisatoren und Helfer juristisch zu belangen – ganz gleich davon, welchem politischen Lager sie sich zuordnen mögen. Sofern es sich hierbei um Personen nichtdeutscher Staatsangehörigkeit handelt, sind aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht nur zu prüfen, sondern auch umzusetzen. Der Staat muss die unmissverständliche Botschaft aussenden, dass er es mit der null Toleranz ernst meint. Nur so kann einem Verfall der Sitten und eine Herabsetzung der Hemmschwellen für Gewalt entgegen gewirkt werden. Aber auch jeder einzelne sollte antisemitischen Parolen und Stereotypen entschieden entgegentreten – egal ob auf Podien, am Stammtisch, am Gartenzaun, in Sozialen Medien oder in Schulen. Ein kollektives Wegsehen, wie 1938, darf es hier nie wieder geben.