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Die Wahlrechtsreform der Ampelkoalition – Keine Sternstunde der Demokratie

Foto: cocoparisienne via Pixabay

Am Freitag hat der Deutsche Bundestag mit den Stimmen der Regierungsmehrheit ein neues Bundeswahlgesetz verabschiedet. Statt wie bisher eine variable, und tendenziell wachsende Zahl an Mandatsträgern, sollen künftig nur noch exakt 630 Angeordnete im Deutschen Bundestag sitzen. Erreicht werden soll dies durch die Abschaffung aller Überhang- und Ausgleichsmandate. Was zunächst nach einer notwendigen Verkleinerung des Parlaments aussieht, offenbart seine Tücken im Detail. So hat die Ampel mit ihrem spontanen Alleingang gleich mit zwei Grundprinzipien des bisherigen Wahlrechts gebrochen.

Zum einen hat sie das seit 1949 bestehende personalisierte Verhältniswahlrecht ausgehöhlt, denn anders als bisher zieht ein direkt gewählter Bewerber nicht mehr automatisch in den Deutschen Bundestag ein. So wird künftig zunächst geprüft, ob durch seine Wahl ein sogenanntes Überhangmandat entstehen würde. Diese treten auf, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Mandate direkt gewinnt, als ihr entsprechend des Zweitstimmenergebnisses zustehen würden. Bisher wurden diese Mandate durch zusätzliche Sitze für die anderen Parteien ausgeglichen, sodass das Verhältnis der Zweitstimmen gewahrt blieb. Hierdurch konnte der Bundestag zum Teil erheblich über die Regelgröße von 598 Sitzen anwachsen.

Künftig werden die Direktkandidaten entsprechend ihres Stimmenanteils absteigend sortiert und nur jene mit den höchsten Stimmenanteilen ziehen in den Bundestag ein; alle anderen Direktmandate fallen unter den Tisch. Auf die Ergebnisse der Bundestagswahl 2021 angewendet, wären bei den Bundestagswahlen 2017 und 2021 in Brandenburg jeweils drei von zehn Direktkandidaten nicht in den Bundestag eingezogen, obwohl sie ihren Wahlkreis gewonnen haben. Besonders hart getroffen hätte es den Wahlkreis 59 (Märkisch-Oderland – Barnim II), der bei beiden Bundestagswahlen ohne Direktmandat gewesen wäre. An diesem systemimmanenten Problem ändert auch die Anhebung der fixen Größe des Bundestages auf 630 Mandate nichts.

Im Extremfall kann dies sogar dazu führen, dass künftig ganze Wahlkreise mit keinem einzigen Abgeordneten im Deutschen Bundestag vertreten sind – nämlich dann, wenn der Direktkandidat ein Überhangmandat erzeugen würde und auch kein anderer Kandidat aus dem Wahlkreis über die Landesliste einer Partei in den Bundestag einzieht.

Auf diese Weise wurde auch das zweite Prinzip der bisherigen Wahlen – das der Regionalisierung – beschädigt. Seitens der Bundesregierung zielte man dabei vor allem auf Bayern, wo die CSU in der Vergangenheit besonders viele Überhangmandate gewann. Tatsächlich getroffen wurden aber auch die neuen Bundesländer, wo Wahlen in der Regel deutlich knapper entschieden werden, als in den alten Bundesländern. So droht die ohnehin schon gering ausgeprägte politische Repräsentation des Ostens im Bundestag weiter abgeschwächt zu werden. Zudem drohen die Wahlen dort, wo sie besonders spannend und umkämpft sind, künftig bedeutungslos zu werden, da der Gewinner auf Grund des knappen Ergebnisses nicht in den Bundestag einzieht und der Wahlkreis unbesetzt bleibt. Durch die ungleiche Größe der Wahlkreise (der Wahlkreis 62 Dahme-Spreewald – Teltow-Fläming III – Oberspreewald-Lausitz I besitzt knapp 253.000 Wahlberechtigte, der Wahlkreis 65 Elbe-Elster – Oberspreewald-Lausitz II aber nur rund 162.000) kann zudem ein Kandidat in den Bundestag einziehen, der wesentlich weniger Stimmen – aber den höheren Stimmanteil – erhalten hat, als sein Parteikollege im Nachbarwahlkreis.

Zudem hob die Bundesregierung kurzerhand auch die sogenannte Grundmandatsklausel auf. Diese besagt, dass eine Partei von der Fünf-Prozent-Hürde ausgenommen wird, wenn sie in mindestens drei Wahlkreisen ein Direktmandat erwirbt. Bei der letzten Bundestagswahl war dies bei der Linken der Fall, die zwar bundesweit nur 4,9% aber drei Direktmandate erhielt. Sie wäre mit diesem Ergebnis in einem künftigen Bundestag nur noch mit den Direktmandaten, nicht jedoch in Fraktionsstärke vertreten. Auch für die CSU ist diese Regelung potenziell gefährlich. Sie erhielt bei der letzten Bundestagswahl 5,2%, aber 45 von 46 Direktmandaten in Bayern. Bei einem Ergebnis von 4,9% hätte sie nur 31 der gewonnenen 45 Direktmandate behalten dürfen. Ein möglicher Ausweg bestünde lediglich darin, die eigenen Bewerber nicht als Vorschlag der Partei, sondern als vermeintlich unabhängigen Kandidaten antreten zu lassen, für den diese Einschränkung nicht gilt. Das neue Gesetz lädt also geradezu zu Missbrauch ein.

Gleichwohl wird die Macht der Partei gegenüber ihren Abgeordneten weiter gestärkt. Konnte sich ein direkt gewählter Abgeordneter in der Vergangenheit auf das Votum der Wähler in seinem Wahlkreis stützen, garantiert ihm dies künftig keinen Platz im Bundestag mehr. Die Absicherung durch einen Listenplatz der Partei gewinnt an zusätzlicher Bedeutung.

Zu guter Letzt wird die Fünf-Prozent-Hürde durch die Aufhebung der Grundmandatsklausel für kleinere Parteien noch schwieriger zu bewältigen. Stimmen für eine kleinere Partei werden demnach zugunsten der größeren Parteien weiter entwertet. Ein Ausgleich hierfür – etwa durch die Absenkung der Sperrklausel oder die Einführung einer Ersatzstimme – wurde durch die Ampelkoalition bewusst vermieden.

Dabei hätte es bessere Alternativen zur Reduzierung der Überhang- und Ausgleichsmandate gegeben. So hätte eine Reduktion der Wahlkreise die Wahrscheinlichkeit von Überhang- und Ausgleichsmandaten verringert. Bei 250 statt bisher 299 Wahlkreisen hätte sich der Bundestag 2021 bereits auf 673 (statt 736) Sitze verringert.

Das Argument, weniger, aber dafür größere Wahlkreise würden die Entfremdung zwischen Abgeordnetem und Wähler befördern, ist hierbei nur bedingt tragfähig. So bestünde beispielsweise die Möglichkeit, über Mehrmandatswahlkreise (Wahlkreise, in denen zwei oder mehr Mandate direkt gewählt werden können) das Angebot an Kandidaten zu erhöhen und somit sowohl unterschiedliche politische als auch regionale Gegebenheiten in einem Wahlkreis, wie auch dessen Größe besser zu berücksichtigen. Durch die dann bessere Verteilung der Stimmen im Vergleich zum bisherigen „The winner takes it all“-Prinzip wäre die Wahrscheinlichkeit für Überhang- und Ausgleichsmandate erheblich verringert. Zudem hätten auch Kandidaten kleinerer Parteien die Chance ein Mandat zu erringen.

Diese Chance hat die Ampelkoalition vertan. Stattdessen hat sie das Wahlrecht – und damit gewissermaßen eine tragende Säule der parlamentarischen Demokratie – zum Spielball wechselnder Mehrheiten im Bundestag gemacht, indem sie ihre Reform im Eiltempo und ohne Abstimmung mit der Opposition durch das Parlament gebracht und damit einen Präzedenzfall für künftige Regierungsmehrheiten geschaffen hat.